Die konstruktiblen reellen Zahlen

 Wir definieren schließlich noch Gödels Modell L der Mengenlehre, und skizzieren, wie man die relative Konsistenz der Kontinuumshypothese (CH) beweisen kann. Ganz unabhängig vom Kontinuumsproblem ergibt sich mit den sog. konstruktiblen reellen Zahlen ein wichtiger neuer Begriff.

 Die Idee ist: Wir nehmen durch Rekursion entlang einer Wohlordnung immer nur einfache, definierbare Teilmengen des bisherigen Standes der Rekursion auf. Alle so erhaltenen Mengen bilden ein reichhaltiges Universum, das sich aufgrund seiner einfachen rekursiven Konstruktion bis ins Detail ausleuchten lässt. Eine Möglichkeit der Durchführung dieser Idee ohne Rückgriff auf den Formel- und Definierbarkeitsbegriff der mathematischen Logik benutzt den Abschluss von Mengen unter einfachen Funktionen. Wir definieren hierzu:

Definition (Basisfunktionen und Gödelfunktionen)

Wir definieren ein- bzw. zweistellige Funktionen F1, …, F10 durch:

F1(x, y) =  { x, y }, F2(x, y) =  x  ×  y,
F3(x, y) =  { (a, b)   ∈   x × y | a  ∈  b }, F4(x, y) =  x  −  y,
F5(x, y) =  x  ∩  y,F6(x) =  ⋃ x,
F7(x) =  dom(x), F8(x) =  { (a, b)  |  (b, a)  ∈  x },
F9(x) =  { (a, b, c)  |  (a, c, b)  ∈  x },F10(x) =  { (a, b, c)  |  (b, c, a)  ∈  x }.

Die Funktionen F1, …, F10 heißen Basisfunktionen.

Eine n-stellige Funktion G heißt eine Gödelfunktion, falls G eine Komposition von Basisfunktionen ist.

 Die Fi sind genauer sog. funktionale Klassen. Sie sind auf allen Mengen definiert, also echte Klassen. Diese Problematik soll hier nicht weiter stören, wir sprechen der Einfachheit halber von Funktionen.

 Die spezielle Auswahl der Funktionen F1, …, F10 ist hier nicht weiter wesentlich. Wichtig ist, dass durch Komposition von Grundfunktionen alle einfach zu definierenden Funktionen eingefangen werden. Erstaunlich viele Funktionen erweisen sich als Gödelfunktionen. (Der Leser betrachte zum Vergleich eine Programmiersprache. Auch hier wird eine überraschende Vielzahl an Funktionen aus sehr wenigen Grundoperationen erzeugt.)

 Wir definieren weiter:

Definition (die Abschlussoperation cl)

Sei x eine Menge. Wir definieren rekursiv für n  ∈  :

cl0(x) =  x,
cln + 1(x) =  ⋃1 ≤ i ≤ 5 Fi″(cln(x) × cln(x))  ∪  ⋃6 ≤ i ≤ 10 Fi″ cln(x).

Schließlich definieren wir eine Funktion cl für alle Mengen x durch:

cl(x)  =  ⋃n < ω cln(x).

 Für jede Menge x ist cl(x) abgeschlossen unter allen Gödelfunktionen, d. h. für alle a1, …, an  ∈  cl(x) und alle n-stelligen Gödelfunktionen G ist G(a1, …, an)  ∈  cl(x). Weiter ist cl(x) die kleinste Obermenge von x mit dieser Eigenschaft.

 Damit sind wir in der Lage, die konstruktiblen Mengen zu definieren:

Definition (konstruktible Hierarchie entlang einer Wohlordnung)

Sei 〈 W, < 〉 eine Wohlordnung. Wir definieren Mengen Lz = Lz(〈 W, < 〉) für z  ∈  W durch Rekursion entlang W wie folgt:

L0W =  ∅,
Lz + 1 =  cl(Lz ∪ { Lz })  ∩  (Lz) für alle z  ∈  W, für die z + 1 in W existiert,
Lz =  ⋃y < z Ly für alle Limeselemente z von W.
Definition (konstruktible Mengen, L)

Eine Menge x heißt konstruktibel, falls es eine Wohlordnung 〈 W, < 〉 gibt mit x  ∈  ⋃z  ∈  W Lz(〈 W, < 〉).

Die Klasse aller konstruktiblen Mengen wird mit L bezeichnet.

 Offenbar hängt Lz(W) nur von der Länge von Wz ab: Sind W, W′ Wohlordnungen, und sind z  ∈  W und z′  ∈  W′ mit Wz ≡  W′z′, so gilt Lz(W) = Lz′(W′).

 Wir schreiben speziell kurz Lα anstelle von Lα(〈 ω1, < 〉) für alle α < ω1. Weiter setzen wir Lω1  =  ⋃α < ω1 Lα.

 Eine konstruktible reelle Zahl ist eine reelle Zahl, die konstruktibel ist. Je nach Betrachtungsweise ist die Menge dieser Zahlen also  ∩ L oder 𝒩 ∩ L oder auch () ∩ L. Das entscheidende und alles andere als triviale Resultat über die konstruktiblen reellen Zahlen ist nun der folgende Satz von Gödel:

Satz (Hauptsatz über die konstruktiblen reellen Zahlen)

Sei x  ∈   ∪ 𝒩 ∪ () konstruktibel. Dann ist x  ∈  Lω1.

 Das klassische Kontinuum  ist hier als über Dedekindsche Schnitte konstruiert zu denken. Für die Konstruktion von Cantor gilt: Jede konstruktible Fundamentalfolge ist in Lω1. Die Äquivalenzklasse einer Fundamentalfolge kann dagegen kein Element von Lω1 sein, da sie immer überabzählbar ist und Lω1 nur abzählbare Mengen als Elemente enthält. Analoges gilt für Hänge und ihre Äquivalenzklassen.

 Zur Konstruktion der konstruktiblen reellen Zahlen genügen also die abzählbaren Wohlordnungen. Nach ω1 werden durch den iterierten Abschluss unter Gödelfunktionen keine neuen reellen Zahlen mehr produziert!

 Aus der Definition der Mengen Lα ist nun sofort zu sehen, dass Lα abzählbar ist für alle α < ω1, und ein kardinalzahlarithmetisches Argument liefert dann leicht die Gleichung |Lω1| = |ω1|. Der Hauptsatz liefert dann:

Korollar (Abschätzung der Mächtigkeit der konstruktiblen reellen Zahlen)

|  ∩  L|  ≤  ω1  (und |𝒩  ∩  L| = |()  ∩  L| ≤ ω1).

 Ein genaue und recht aufwendige Analyse zeigt weiter, dass L ein Modell der mengentheoretischen Axiomatik ZFC bildet. Damit kann man in L wie üblich Mathematik betreiben. Insbesondere kann man die Konstruktion von L in L selbst durchführen. Ein weiterer Satz von Gödel, der ebenso tragend wie der obige Hauptsatz ist, besagt nun, dass L in L konstruiert nichts anderes ist als L selbst (und nicht etwa eine Teilklasse von L, was auf den ersten Blick durchaus sein könnte). Die Konstruktion von L ist, wie man sagt, absolut, das Ergebnis der Konstruktion hängt nicht vom Objektuniversum ab, in dem die Konstruktion durchgeführt wird. Die Absolutheit zusammen mit dem Hauptsatz und seinem Korollar liefert, dass (CH) in L gilt, denn es existiert eine Stufe der L-Hierarchie in L, die die kleinste überabzählbare Mächtigkeit besitzt und die alle reellen Zahlen enthält. Aus rein logischen (aber wieder etwas aufwendig zu beweisenden) Gründen folgt dann die relative Konsistenz von (CH). Wir erhalten also:

Satz (ein Modell von (CH) und die relative Konsistenz von (CH))

Die Kontinuumshypothese ist in L richtig.

(CH) ist also innerhalb der üblichen Mathematik nicht widerlegbar (es sei denn, die übliche Mathematik ist widersprüchlich).

 Der Leser wird sich vielleicht gefragt haben, ob nicht schon der Hauptsatz genügt, um folgern zu können, dass in L höchstens ω1-viele reelle Zahlen existieren. Dies ist nicht der Fall, denn ω1 kann länger sein als ω1L, die in L konstruierte Wohlordnung nach der Hartogsmethode. ω1 ist nicht absolut: In die Definition von ω1 = /≡  gehen alle Teilmengen von  ein, und es ist keineswegs klar und de facto nicht beweisbar, dass alle Teilmengen von  in L auftauchen. Im Korollar oben können wir ≤ nicht durch = ersetzen, |  ∩  L| <  ω1 ist durchaus denkbar. (Das Gleiche gilt natürlich, wenn wir ω1 als von-Neumann-Zermelo-Ordinalzahl einführen, die beiden Ansätze sind ja gleichwertig. Bei der Hartogsmethode wird die mangelnde Absolutheit aber unmittelbar auf die schon diskutierte Problematik des Ausdrucks „alle Teilmengen von “ zurückgeführt.)

 Gibt es ein x  ∈   − L, also eine reelle Zahl, die in keinem Lα für alle α erscheint? Die Antwort ist: Zahlen in  − L sind sehr kompliziert, ihre Existenz ist nicht beweisbar, aber widerspruchsfrei (wie die Cohensche Erzwingungsmethode zeigt). Es besteht weiter ein tiefer Zusammenhang zu großen Kardinalzahlaxiomen. Anders heißt das: Wahrscheinlich ist jede reelle Zahl, die der Leser bislang gesehen hat, konstruktibel!

 Das Thema ist für die grundlagentheoretische Untersuchung der reellen Zahlen von enormer Bedeutung, liegt aber außerhalb dieses einführenden Textes. Wir wollten aber wenigstens einen kleinen Überblick gegeben haben, samt einer vollständigen Definition der konstruktiblen Mengen und speziell der konstruktiblen reellen Zahlen. Für die Feinheiten der konstruktiblen Hierarchie verweisen wir den Leser auf [ Jensen 1972 ].

 Ein historisch bewusstes Innehalten scheint an dieser Stelle noch recht am Ort: Cantor wollte (CH) beweisen. Er kannte Wohlordnungen, transfinite Rekursion, und er kannte natürlich alle Basisfunktionen. Die Idee des iterierten Abschlusses gehört eher der Nachfolgegeneration an, da sie Mengen von Mengen von Mengen usw. erzeugt, was Cantor fremd war. Dennoch erscheint die Konstruktion von L nicht völlig außer Reichweite der Cantorzeit. Insgesamt gibt es, so scheint es dem Autor, einen nichteingeschlagenen historischen Weg, der ZFC + „jede Menge ist in L“ als Basistheorie für die Mathematik des 20. Jahrhunderts hinterlassen hätte. Dann wäre (CH) eine weithin akzeptierte Aussage und L wohl noch besser untersucht als es heute ist. Die Mathematik sieht sich gerne außerhalb einer historischen Abhängigkeit, was zu einem etwas übersimplifizierten Wahrheitsbegriff führen und den Strom der Forschung sowohl beschleunigen als auch einengen kann.