Die Themen des Buches
Erster Abschnitt: Das klassische Kontinuum
Wir beginnen, in vorgetäuschter Ignoranz gegenüber ℝ, mit einer pythagoreischen Diskussion von irrationalen Zahlen, einschließlich des Euklidischen Algorithmus und der unendlichen Kettenbrüche. Den zweiten Teil des ersten Kapitels bilden Erweiterungen der griechischen Irrationalitätserkenntnisse und Annäherungen an das Gebiet der algebraischen und transzendenten Zahlen. Wir zeigen elementar, dass die algebraischen Zahlen einen Körper bilden, und beweisen die Existenz transzendenter Zahlen mit den Methoden von Liouville.
Im zweiten Kapitel besprechen wir in kompakter Form den Mächtigkeitsbegriff, die Überabzählbarkeit von ℝ und das Cantorsche Kontinuumsproblem. Wir setzen uns über technische Hindernisse hinweg und führen eine naive, aber wirkungsvolle symbolische Arithmetik mit Mächtigkeiten ein. Die Unbestimmbarkeit der Mächtigkeit der reellen Zahlen innerhalb der klassischen Mathematik ist der Leitstern für vieles weitere, und die Hauptstütze für die Grundthese des dunklen Charakters des zweiten Hauses der Mathematik. Sie ist auch der Urgrund der Existenz dieses Buches.
In Kapitel drei geben wir verschiedene Charakterisierungen des Kontinuums, diskutieren Vollständigkeitsbegriffe für angeordnete Körper und skizzieren die klassischen Konstruktionen nach Cantor und Dedekind so kurz, dass niemand gelangweilt wird, und so ausführlich, dass der Rohbau leicht in Eigenregie vervollständigt werden kann. Dagegen motivieren und entwickeln wir ausführlich eine moderne Konstruktion des Körpers ℝ nach Stephen Schanuel und Norbert A’Campo; die reellen Zahlen werden hier samt Arithmetik direkt aus dem Ring der ganzen Zahlen gewonnen. Auf die Konstruktionen folgt eine Diskussion der im Jahr 1872 kulminierenden Ereignisse, und zum Abschluss geben wir Cantors Originalarbeit faksimiliert wieder.
Im vierten Kapitel unternehmen wir einen klassischen geometrischen Ausflug und klassifizieren als Beispiel der Einführung einer Geometrie im Sinne von Felix Klein die abstandserhaltenden Abbildungen in den Euklidischen Räumen der ersten drei Dimensionen. Die Beweise sind bewusst anschaulich und zu Fuß, wobei auf Grundbegriffe der linearen Algebra zurückgegriffen wird, wo immer ihre Vermeidung künstlich und umständlich gewesen wäre. Am Ende des Kapitels stellen wir dann einige Besonderheiten der Isometriegruppen zusammen, die, für sich interessant genug, bei den späteren maßtheoretischen Fragestellungen eine große Rolle spielen werden.
In den beiden letzten Kapiteln des ersten Abschnitts betrachten wir Inhalte und Maße auf den reellen Zahlen. Der Schwerpunkt liegt auf dem grundsätzlichen Maß- und Inhaltsproblem, wie es von Borel, Lebesgue, Vitali, Hausdorff, Ulam und anderen formuliert und untersucht wurde.
Kapitel fünf beginnt mit dem Satz von Vitali. Danach werden die Konstruktionsschritte des Lebesgue-Maßes vorgestellt. Das zugehörige Integral wird nach dem Lebesgueschen Vorbild sowohl geometrisch als auch analytisch eingeführt. Nicht zuletzt wegen der guten Verfügbarkeit von Lehrbuchliteratur zur Maß- und Integrationstheorie konzentriert sich die Darstellung auf die historischen und inhaltlichen Ideen und verzichtet auf detaillierte technische Durchführungen im Allgemeinen Umfeld. Das Kapitel endet mit einer kurzen Einführung des Henstock-Kurzweil-Integrals, einem Integral des Riemannschen Typs.
Ausführlich werden im sechsten Kapitel Fortsetzungen des Lebesgue-Maßes besprochen. Wir beweisen, dass sich jede bewegungsinvariante σ-additive Ausdehnung des Lebesgue-Maßes immer noch weiter fortsetzen lässt. Weiter zeigen wir die Existenz von bewegungsinvarianten endlich additiven Inhalten auf den vollen Potenzmengen von ℝ und ℝ2, die das Lebesgue-Maß auf der Geraden bzw. der Ebene fortsetzen. Der Beweis folgt dem originalen Argument von Stefan Banach, jedoch wird am Ende auch noch der allgemeine von Neumannsche Ansatz über mittelbare Gruppen besprochen. Der positive Satz von Banach leitet zuvor nahtlos über zu den „negativen“ Sätzen über Messungen auf der Kugeloberfläche im dreidimensionalen Raum: den Paradoxa von Hausdorff und Banach-Tarski.
Zweiter Abschnitt: Die Folgenräume
In diesem Abschnitt studieren wir die „digitale Version der reellen Zahlen“, den sog. Baireraum. Wir stellen ihn ausführlich und langsam vor, damit er dem Leser möglichst zur Herzensangelegenheit werde. Die neue Interpretation von reelle Zahl als unendliche Folge von natürlichen Zahlen ist sicher gewöhnungsbedürftig. Mephisto sagt einmal zu Faust: „Bist du beschränkt, dass neues Wort dich stört? Willst du nur hören, was du schon gehört?“ So teuflisch-aggressiv wird der neue Raum gegenüber dem alten hier keineswegs vertreten; er soll den klassischen kontinuierlichen Ansatz erweitern und nicht ersetzen. Viele Fragen lassen sich klarer und einfacher in den Folgenräumen behandeln als in ℝ, und man kann deren baumartige Verzweigungsstruktur schnell lieb gewinnen. Die Kettenbrüche zeigen zudem, dass der neue Baireraum homöomorph zu den irrationalen Zahlen ist. Das Neue ist in diesem Sinne das Alte, das durch eine Reduktion an Struktur gewinnt.
Weiter führen wir mit den sog. polnischen Räumen, also separablen topologischen Räumen, deren Topologie von einer vollständigen Metrik induziert wird, einen allgemeinen Rahmen ein. Dies dient nicht so sehr dem Streben nach abstrakter Allgemeinheit als dem Vermeiden unnötig schwerfälliger Formulierungen und Wiederholungen. Dieser neue Rahmen schließt die Folgenräume und das klassische Kontinuum gleichermaßen mit ein, sodass im zweiten Abschnitt in vielen Fällen auch Resultate über ℝ gewonnen werden.
Die Folgenräume, allen voran der Baire- und der Cantorraum, stehen als nulldimensionale polnische Räume im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Wie bei der Untersuchung des linear-arithmetischen Kontinuums suchen wir zunächst nach charakterisierenden Eigenschaften des Baire- und Cantorraumes. Wir entwickeln eine versatile rekursive Zerlegungstechnik, die die besondere Struktur der digitalen Welt nutzt und geeignet ist, die polnischen Räume gleichmäßig auszuleuchten. Weiter untersuchen wir stetige bijektive Bilder des Baireraumes und beweisen hiermit insbesondere die Existenz von Peano-Kurven für das Kontinuum. Diese Ergebnisse werfen noch einmal das Dimensionsproblem auf, und wir wenden uns deswegen erneut der besonderen topologischen Struktur des Kontinuums zu: Wir beweisen mit elementaren Methoden die Sätze von Brouwer über die Invarianz der Dimension und die Existenz von Fixpunkten.
Kapitel drei beschäftigt sich dann allgemein mit Regularitätseigenschaften von Teilmengen von polnischen Räumen. Einige Stichworte sind hier: Perfekte Mengen einschließlich der Scheeffer-Eigenschaft und der Marczewski-Messbarkeit; Bairesche Kategorie und Baire-Eigenschaft; Lebesgue-Messbarkeit im Cantorraum und universelle Messbarkeit für Borel-Maße.
Es folgt ein Intermezzo über Wohlordnungen, Ordinalzahlen und transfinite Induktion und Rekursion. Wir geben, mit Referenzen an Friedrich Hartogs, eine einfache Definition der ersten überabzählbaren Ordinalzahl ω1, die wir im Folgenden vielfach einsetzen werden. Das Zwischenspiel schließt mit illustrierenden Beispielen für die Einsatzmöglichkeiten der transfiniten Methode. Insbesondere geben wir eine kurze Einführung in die von Gödel eingeführten konstruktiblen reellen Zahlen. Apollon und Dionysos reichen sich hier die Hand.
Kapitel vier ist mit seinem Blick auf irreguläre Mengen komplementär zu Kapitel drei. Wir untersuchen Vitali-Mengen und Bernstein-Mengen ebenso wie irreguläre Mengen, die sich aus Wohlordnungen und der Kontinuumshypothese ergeben.
Das fünfte Kapitel behandelt die Grundlagen der unendlichen Zweipersonenspiele. Dieser spielerische Blick auf die reellen Zahlen wirft ungewöhnliche Fragen auf und führt zu einer neuen Perspektive: Wir zeigen, dass die Existenz von Gewinnstrategien für unendliche Spiele eine übergeordnete Regularitätseigenschaft darstellt, die alle anderen in sich schließt.
Das letzte Kapitel untersucht verschiedene Hierarchien von Mengen reeller Zahlen. Wir führen durch eine transfinite Rekursion der Länge ω1 die Borel-Hierarchie ein, die die Borelsche σ-Algebra stufenweise vor uns ausbreitet. Mit der Determiniertheit aller Borel-Spiele beweisen wir einen zentralen modernen Satz über ℝ. Schließlich wenden wir uns den analytischen und allgemeiner den projektiven Mengen zu. Die projektiven Mengen erscheinen in einer Hierarchie, die sich an die Borel-Mengen anschließt und ins Reich der Unabhängigkeit mündet. Viele sich aufdrängende Fragen über die projektiven Mengen lassen sich im klassischen Rahmen nicht beantworten, d. h. die zugehörigen Aussagen lassen sich weder beweisen noch widerlegen. Wir schließen mit einem tabellarischen Überblick, der die beiden eng zusammenhängenden Kapitel fünf und sechs historisch einordnet.