6b. Die Taylor-Entwicklung (Lösungen)
Übung 1
Sei y ∈ ℝ. Beweisen Sie den Binomischen Lehrsatz
(x + y)n = ∑k ≤ n xk yn − k für alle x ∈ ℝ
durch Taylor-Entwicklung der Funktion f : ℝ → ℝ mit
f (x) = (x + y)n für alle x ∈ ℝ.
Lösung zur Übung 1
Wir berechnen die Ableitungen von f. Für alle x ∈ ℝ gilt:
f (0)(x) = (x + y)n
f (1)(x) = n (x + y)n − 1
f (2)(x) = n (n − 1) (x + y)n − 2
f (3)(x) = n (n − 1) (n − 2) (x + y)n − 3
…
f (k)(x) = n (n − 1) (n − 2) … (n − k + 1) (x + y)n − k
…
f (n)(x) = n !
Mit Hilfe von Binomialkoeffizienten können wir die k-te Ableitung für k = 0, …, n schreiben in der Form
f (k)(x) = n!(n − k)! (x + y)n − k = k! (x + y)n − k.
Damit erhalten wir für den Entwicklungspunkt 0 das folgende Taylor-Polynom der Ordnung n:
Tn0 (x) = ∑k ≤ n f (k) (0)k! xk = ∑k ≤ n yn − k xk für alle x ∈ ℝ
Da f ein Polynom n-ten Grades ist, gilt f = Tn0. Damit ist der Binomische Lehrsatz bewiesen.
Übung 2
Bestimmen Sie das Taylor-Polynom der Ordnung 3 für die Funktion arcsin : [ −1, 1 ] → ℝ im Entwicklungspunkt p = 1/2.
Lösung zur Übung 2
Für alle x ∈ ]−1, 1 [ gilt
arcsin′(x) = = (1 − x2)− 1/2,
arcsin″(x) = ddx (1 − x2)− 1/2 = − 12 (1 − x2)−3/2 (− 2x) = x (1 − x2)− 3/2,
arcsin(3)(x) | = ddx (x (1 − x2)− 3/2) |
= (1 − x2)−3/2 + x ddx (1 − x2)−3/2 | |
= (1 − x2)−3/2 + x (− 3/2) (1 − x2)−5/2 (− 2x) | |
= (1 − x2)−3/2 + 3 x2 (1 − x2)−5/2 | |
= 1 − x2 + 3 x2(1 − x2)5/2 = 1 + 2 x2(1 − x2)5/2. |
An der Stelle p = 1/2 erhalten wir:
arcsin(1/2) = π6 (siehe unten),
arcsin′(1/2) = (1 − 1/4)− 1/2 = (4/3)1/2 = ,
arcsin″(1/2) = 1/2 (1 − 1/4)− 3/2 = 1/2 · (4/3)3/2 = ,
arcsin(3)(1/2) = 1 + 2/4(1 − 1/4)5/2 = 2 · 3/4(3/4)5/2 = 2(3/4)3/2 = .
Damit erhalten wir das Taylor-Polynom dritter Ordnung
T31/2 arcsin (x) = π6 + + + .
zum Wert arcsin(1/2):
Wir zeigen, dass sin(π/6) = 1/2. Dann ist arcsin(1/2) = π/6.
Es gilt cos(π/3) = 1/2 (halbe Grundfläche eines gleichseitiges Dreiecks mit Seitenlänge 1). Nach einer früheren Übung (Halbwinkelformeln) gilt
sin2(x/2) = 1 − cos(x)2 für alle x ∈ ℝ.
Für x = π/3 erhalten wir
sin2(π/6) = 1 − cos(π/3)2 = 1 − 1/22 = 14.
Aus sin(π/6) > 0 folgt sin(π/6) = 1/2.
Übung 3
Bestimmen Sie die Taylor-Reihe der Funktion f : ] −∞, 0 [ → ℝ mit
f (x) = x−2 für alle x < 0
im Entwicklungspunkt p = −1.
Lösung zur Übung 3
Die ersten Ableitungen von f lauten:
f ′(x) = − 2 x− 3, f ″(x) = 6 x− 4, f (3)(x) = − 24 x− 5.
Wir zeigen durch Induktion nach n ≥ 0:
(+) f (n)(x) = (−1)n (n + 1)! x− (n + 2) für alle x < 0.
Induktionsanfang n = 0: Für alle x < 0 gilt
f (0)(x) = f (x) = x−2 = 1 · 1 · x−2 = (−1)0 (0 + 1)! x− (0 + 2)
Induktionsschritt von n nach n + 1: Es gelte
f (n)(x) = (−1)n (n + 1)! x− (n + 2) für alle x < 0.(Induktionsvoraussetzung)
Dann gilt für alle x < 0:
f (n + 1)(x) | = ddx (−1)n (n + 1)! x− (n + 2) |
= (−1)n (− 1) (n + 2) (n + 1)! x− (n + 2) − 1 | |
= (−1)n + 1 (n + 2)! x− (n + 3) |
Auswertung der Ableitungen an der Stelle −1 liefert für alle n ≥ 0:
f (n)(−1) = (−1)n (n + 1)! (−1)− (n + 2) = (n + 1)! (−1)n − n − 2 = (n + 1)!.
Damit erhalten wir die Taylor-Reihe
T1 f (x) | = ∑n f (n)(1)n! (x − (−1))n |
= ∑n (n + 1)!n! (x + 1)n | |
= ∑n (n + 1) (x + 1)n. |
Übung 4
Sei f : [ 0, ∞ [ → ℝ mit
f (x) = für alle x ≥ 0
die Quadratwurzelfunktion. Bestimmen Sie die Taylor-Reihe T1 f von f für den Entwicklungspunkt p = 1. Zusatzaufgabe: Bestimmen Sie den Konvergenzbereich Kf, 1 = { x ∈ ℝ | T1 f (x) konvergiert } der Reihe.
Lösung zur Übung 4
Die ersten Ableitungen von f berechnen sich zu:
f (1)(x) = 12 x− 1/2
f (2)(x) = − 14 x− 3/2 = − 12 · 2 x− 3/2
f (3)(x) = 38 x− 5/2 = 1 · 32 · 2 · 2 x− 5/2
f (4)(x) = − 1516 x− 7/2 = − 1 · 3 · 52 · 2 · 2 · 2 x− 7/2
Wir setzen c1 = c2 = 1, c3 = 3, c4 = 15. Allgemein definieren wir rekursiv:
c1 = 1
cn + 1 = cn · (2n − 1) = 1 · 3 · … · (2n − 1) für alle n ≥ 1
Aufgrund der Ableitungstabelle vermuten wir:
(+) f (n)(x) = (−1)n − 1 cn2n x1/2 − n für alle n ≥ 1
Wir beweisen unsere Vermutung (+) durch Induktion nach n ≥ 1.
Induktionsanfang n = 1
Es gilt
f (1)(x) = 12 x− 1/2 = (−1)1 − 1 c121 x1/2 − 1
Induktionsschritt von n nach n + 1
Es gelte
f (n)(x) = (−1)n − 1 cn2n x1/2 − n (Induktionsvoraussetzung)
Dann gilt:
f (n + 1)(x) | = ddx f (n)(x) = I. V. ddx (−1)n − 1 cn2n x1/2 − n |
= (−1)n − 1 cn2n (1/2 − n) x1/2 − n − 1 | |
= (−1)n − 1 cn2n − (2n − 1)2 x1/2 − (n + 1) | |
= (−1)n cn + 12n + 1 x1/2 − (n + 1) |
Damit berechnet sich die Taylor-Reihe von f im Entwicklungspunkt p = 1 zu:
T1 f (x) = ∑n f (n)(1)n! (x − 1)n = 1 + ∑n ≥ 1 (−1)n − 1 cn2n n! (x − 1)n
Verwendung der fallenden Potenz
Mit Hilfe der für alle s ∈ ℝ und k ∈ ℕ definierten fallenden Potenz
s[ k ] = ∏0 ≤ j < k (s − j) = s · (s − 1) · … · (s − k + 1)
können wir die Ableitungen von f elegant schreiben:
f (n)(x) = [ 1/2 ]n x1/2 − n für alle n ≥ 0.
Es gilt:
[ 1/2 ]0 = 1
[ 1/2 ]1 = 1/2
[ 1/2 ]2 = 1/2 · (− 1/2)
[ 1/2 ]3 = 1/2 · (− 1/2) · (− 3/2)
…
[ 1/2 ]n = (−1)n − 1 cn2n für alle n ≥ 1
Die fallende Potenz hatten wir in Abschnitt 2 zur Untersuchung der Binomischen Reihen verwendet. Sie ist zur Berechnung von Taylor-Reihen oft nützlich. Aufgrund der Ableitungsregel
ddx xa = a xa − 1
entstehen beim wiederholten Ableiten Faktoren der Form [ a ]n.
Berechnung des Konvergenzbereichs
Wir setzen
an = cn2n n! = |[ 1/2 ]n|n! für alle n ≥ 1.
Dann gilt:
T1 f (x) = ∑n ≥ 0 [ 1/2 ]nn! (x − 1)n = 1 + ∑n ≥ 1 (−1)n − 1 an (x − 1)n
Für alle n ≥ 1 gilt:
(+) an + 1 = cn + 12n + 1 (n + 1)! = cn (2n − 1)2n + 1 (n + 1)! = an 2n − 12(n + 1) < an
Insbesondere gilt an < 1 für alle n ≥ 1, sodass die Taylor-Reihe T1 f (x) durch ∑n (x − 1)n majorisiert wird. Damit konvergiert sie absolut im Intervall ] 0, 2 [ (aufgrund der Konvergenz der geometrischen Reihe).
Um das Konvergenzverhalten an den Randpunkten zu klären, untersuchen wir die Koeffizienten noch genauer. (Das Quotientenkriterium ist für die Folge (an)n ≥ 1 nicht anwendbar.) Es gilt
(1) an < 12n − 1 für alle n ≥ 1.
Dies ist klar für n = 1 (mit an = 1/2) und allgemein ergibt sich die Ungleichung induktiv aus
an + 1 = an 2n − 12(n + 1) < I. V. 12(n + 1) = 12(n + 1) − 1.
Damit ist (an)n ≥ 1 eine monoton fallende Nullfolge. Aus dem Leibniz-Kriterium für alternierende Reihen ergibt sich die Konvergenz von
T1f (2) = 1 + ∑n ≥ 1 (−1)n − 1 an.
Nach dem Abelschen Grenzwertsatz gilt zudem T1f (2) = .
Für den linken Randpunkt von ] 0, 2 [ gilt
T1 f (0) = 1 + ∑n ≥ 1 (−1)n − 1 an (−1)n = 1 − ∑n ≥ 1 an
Zum Nachweis der Konvergenz brauchen wir eine genauere Abschätzung der an. Die obige Majorante ∑n ≥ 1 1/(2n − 1) ist divergent („halbe harmonische Reihe“). Die konvergente Reihe ∑n ≥ 1 1/n2 ist keine Majorante. Wir zeigen:
(2) an < 1n3/2 für alle n ≥ 1.
Diese Ungleichung ist wieder klar für n = 1 und induktiv ergibt sich
an + 1 = an 2n − 12(n + 1) ≤ I. V. 2n − 1n3/2 2(n + 1) ≤ 1(n + 1)3/2 für alle n ≥ 1
Zum Nachweis der letzen Abschätzung ist zu zeigen, dass
(2n − 1)2 (n + 1)3 ≤ n3 4 (n + 1)2.
Äquivalent hierzu ist
(2n − 1)2 (n + 1) ≤ 4 n3.
Diese Ungleichung gilt für alle n ≥ 1, denn die linke Seite berechnet sich zu
(4 n2 − 4 n + 1) (n + 1) | = 4 n3 − 4 n2 + n + 4 n2 − 4 n + 1 |
= 4 n3 − 3n + 1 | |
≤ 4 n3. |
Da die Reihe ∑n ≥ 1 1/n3/2 konvergiert, folgt die Konvergenz von T1 f (0) aus dem Majorantenkriterium. Nach dem Abelschen Grenzwertsatz gilt zudem T1f (0) = 0, sodass
∑n ≥ 1 an = ∑n ≥ 1 |[ 1/2 ]n|n! = 1
Insgesamt gilt
Kf, 1 = [ 0, 2 ].
Die Wurzelfunktion f und einige Taylor-Polynome fn = T1n.
Wie oben mit höheren Ordnungen.
Der Konvergenzbereich [ 0, 2 ] der Taylor-Reihe wird erkennbar.
Die ersten Glieder der Folgen (an)n ≥ 1 und (bn)n ≥ 1 mit
an = |[ 1/2 ]n|n! (blau), bn = 1n3/2 (gelb)
Die ersten Glieder der Folge (1/n2 − an)n ≥ 1 mit an wie oben.
Die Reihe ∑n ≥ 1 1/n2 ist im Gegensatz zu ∑n ≥ 1 1/n3/2 keine Majorante von ∑n ≥ 1 an.
Die ersten Glieder der Folge (an)n ≥ 1 wie oben (blau) und zugehörige Partialsummen ∑k ≤ n ak (gelb). Die Partialsummen konvergieren gegen 1.